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Bildung
03.05.2024

Ist die Volksschule zu eng und zu statisch?

Nadja unterrichtet die Kinder nach ihren individuellen Bedürfnissen und nach Lehrplan 21.
Nadja unterrichtet die Kinder nach ihren individuellen Bedürfnissen und nach Lehrplan 21. Bild: zvg
Lehrermangel, Kritik am Lehrplan, überforderte Lernende und Lehrende. In der Volksschule läuft momentan nicht alles rund. Immer häufiger entziehen Eltern ihre Kinder dem System, geben sie in eine Privatschule oder betreuen sie als «Homeschooler» zuhause, auch in Grüningen. Was bewegt Erziehungsberechtigte zu diesem Schritt?

«Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung, und diese muss wenigs­tens in den Elementar­ und Grund­schulen unentgeltlich sein» – So steht es in der Allgemeinen Erklä­rung der Menschenrechte, Artikel 26. Die Volksschule in der Schweiz ist denn auch eine Errungenschaft, die niemand missen möchte und die doch in letzter Zeit mit einigen Problemen zu kämpfen hat.

Kritik wird lauter

Es fehlen nicht nur unzählige Lehrerinnen und Lehrer, auch die Kritik am Lehrplan 21, an den Lernmethoden und am integra­tiven System werden lauter. Und das sowohl von Erziehungsberech­tigten als auch von Lehrpersonen.

«Ich habe mir zum ersten Mal in meiner langjährigen Lehrerinnen­laufbahn überlegt, was ich sonst noch machen könnte», sagt eine Lehrerin, die anonym bleiben möchte. Mit den zunehmenden Abklärun­gen, Bewertungen, Beurteilungen, Evaluationen und Teamsitzungen bleibe kaum noch Zeit, auf die Be­dürfnisse der Kinder einzugehen. Es wundere sie nicht, dass viele Lehrpersonen nur noch Vikariate machten, weil sie sich so nicht an der Schulentwicklung beteiligen müssten.

«Ich genoss es, viel Zeit mit den Kindern zu verbringen, sie in ihrem Lernprozess zu begleiten und zu sehen, wo sie stehen.»

Fehlende Unterstützung

Als zu eng und zu statisch emp­findet auch eine ehemalige Grü­ninger Lehrerin aus Uster das heutige Schulsystem. Die Absicht einer integrativen Schule sei gut gemeint, funktioniere in der Praxis aber nur mit vielen Mitarbeitenden und einer guten Organisation. «Ein verhaltensauffälliger Schüler kann eine ganze Klasse kaputt machen», sagt sie. Und meist müssten sich dann die Klassenassistenzen mit wenig Erfahrung um diese küm­mern. Eine ständig wechselnde Schulleitung und mangelnde Zu­sammenarbeit hätten sie an ihre Grenzen gebracht.

Neue Wege durch Corona

Viele Eltern betrachten das gel­tende Schulsystem für ihre Kinder zusehends kritisch, überdenken es und suchen neue Wege. So auch zwei Familien aus Grüningen. «Ich habe mich schon vor dem Kin­dergarten meiner älteren Tochter mit dem Thema Homeschooling befasst, erzählt Sandra*. Damals habe sich aber keine Möglich­keit ergeben, weshalb die Tochter vorerst den ersten und zweiten Kindergarten an der öffentlichen Schule besuchte. Als im Frühling 2020 die Schulen geschlossen wur­den, setzte das etwas in Bewe­gung. «Ich genoss es, viel Zeit mit den Kindern zu verbringen, sie in ihrem Lernprozess zu begleiten und zu sehen, wo sie stehen», sagt die zweifache Mutter.

Als sich im Herbst 2021 die Co­rona­ Massnahmen verschärften, beschlossen sie und eine befreun­dete Familie, die Kinder aus der Schule zu nehmen und zuhause zu unterrichten. Schon der Umbau der Garage zu einem Lernatelier wurde bei der ausgebildeten Leh­rerin Nadja* zum Familienprojekt. Noch heute unterrichtet sie ihre eigenen und die von Sandra im «Homeschooling».

«Was wir mit den Kindern im Unterricht erarbeiten, leben wir auch in der Freizeit. Wir unternehmen viele gemeinsame Ausflüge und lassen unsere Erfahrungen ins alltägliche Leben einfliessen.»

Urvertrauen vermitteln

«Bei der Themenwahl und der Unterrichtsgestaltung wird vieles mit den Kindern gemeinsam ent­schieden und ihrem Lernstand entsprechend angepasst. Was wir mit den Kindern im Unterricht er­arbeiten, leben wir auch in der Freizeit. Wir unternehmen viele gemeinsame Ausflüge und lassen unsere Erfahrungen ins alltägliche Leben einfliessen», sagt Nadja.

Man wolle den Kindern Urver­trauen vermitteln, einen guten Nährboden geben und sie zu selb­ständig denkenden Menschen er­ziehen. Deshalb liege es ihnen am Herzen, die Kinder für das Lernen zu begeistern und zu begleiten. Die Kinder sollen sowohl im Unterricht wie auch danach viel Zeit für ihre individuelle Entfaltung haben. Für beide Mütter ist das «Homeschoo­ling» ein Herzensprojekt mit viel Engagement, das sie aber gerne auf sich nehmen.

Noch eine Minderheit

4'136 Schülerinnen und Schüler wurden im Schuljahr 2022/23 in der Schweiz zuhause von den eige­nen Eltern oder der erziehungs­berechtigten Person unterrichtet. Dies zeigen die Statistiken der Kon­ferenz der kantonalen Erziehungs­direktorinnen und ­direktoren (EDK). Im Vergleich zu den 987'000 Lernenden, die gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) eine reguläre Schule besuchen, ist die Anzahl «Homeschooler» gering. Doch ihre Anzahl wächst kontinuierlich.

«Ich unterrichte meine Kinder täglich am Vormittag, danach haben sie frei und keine Hausaufgaben, was ihnen unzählige Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten und die Pflege von sozialen Kontakten ermöglicht.»

Viel Freizeit und Sozialkontakte

«Es tut den Kindern unheimlich gut», sagt Nadja. Sie unterrichte täglich am Vormittag, danach hät­ten die Kinder frei und auch keine Hausaufgaben, was ihnen unzäh­lige Möglichkeiten für Freizeitak­tivitäten und Pflege der sozialen Kontakte ermögliche.

Die Anzahl Lektionen für das «Homeschooling» werden vom Volksschulamt vorgeschrieben, und der Unterricht sowie der Lernstand der Kinder werden einmal jährlich überprüft. Auch «Homeschooler» müssen sich an den Lehrplan 21 halten und reichen ihren Stunden­plan zur Genehmigung ein. Eltern können ihre eigenen Kinder maximal ein Jahr selbst beschulen, danach braucht es eine Lehrperson mit Lehrerausbildung.

Buntes Netzwerk für Sozialisierung

Viel nimmt auch Marije auf sich. Die gelernte Physikerin und Lehre­rin unterrichtet ihre drei Kinder an drei Tagen zuhause, zwei Tage ist sie an einer öffentlichen Schule en­gagiert. Auch ihre älteste Tochter besuchte zuerst den öffentlichen Kindergarten. Weil das aber gar nicht funktionierte, entschieden sich Marije und ihr Mann für das «Homeschooling». «Ich sehe es als meine Aufgabe, den Kindern das Lernen so zu vermitteln, dass sie gar nicht damit aufhören möch­ten», sagt die gebürtige Hollän­derin.

«Ich sehe es als meine Aufgabe, den Kindern das Lernen so zu vermitteln, dass sie gar nicht damit aufhören möchten.»

Mit Freude lernen

Marije arbeitet mit ihren Kindern oft projektbezogen, geht in Museen und macht gemeinsam mit ande­ren «Homeschoolern» Ausflüge. Sie möchte, dass ihre Kinder mit Freu­de lernen und nicht «abgelöscht» von der Schule kommen. Für die Sozialisierung engagiert sie sich im Turnverein und organisiert mit anderen Familien Workshops und Exkursionen. Seit kurzem ist sie zudem Präsidentin des Home­schooler­-Vereins des Kantons Zü­rich. «Urvertrauen ist das Wichtigste für Kinder und nicht, dass sie lernen müssen, sich durchzu­setzen», ist Marije überzeugt.

Dialog nötig

Mirjam berichtet, dass ihre Kin­der während eines Umzugs in der Corona­-Zeit ein Teilzeit­ «Home­schooling» mit einer externen Leh­rerin gemacht haben. Die hohen Schulkosten, der lange Schulweg und zu wenig Kontakt der Kinder mit Gleichaltrigen hätten sie aber schliesslich bewogen, die Kinder wieder regulär einzuschulen.

«Meiner Meinung nach bildet die Möglichkeit zum Homeschooling eine wichtige Nische zwischen Volksschule und privaten Schu­len. Im Kanton Zürich darf ein Kind zwei Semester von Personen ohne Lehrdiplom unterrichtet werden, das bietet Raum für kurzfristige Lösungen, ohne finanziell unter Druck zu kommen. Die Er­fahrungen von Lehrpersonen im Homeschooling könnten durchaus spannend für die Volksschule sein, daher wäre ein Dialog wünschens­wert», sagt sie heute.

*Namen zum Persönlichkeitsschutz abgekürzt.

Martina Gradmann